Offener Brief von Künstlerinnen und Kulturschaffenden an die Politik und sich selbst
An den Bundestag, das Abgeordnetenhaus von Berlin und die deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments
mit großer Scham, Empörung und Entsetzen verfolgen wir die jüngsten Ereignisse rund um die Grundschule in der Ohlauer Straße in Berlin Kreuzberg.
Inmitten der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Welt, das sich international als Vorbild für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sieht, ist in kürzester Zeit ein Ausnahmezustand geschaffen worden. Gegen ihre drohende Abschiebung protestierende Menschen werden kriminalisiert und der Presse der Zugang zu den Flüchtlingen verwehrt.
Wir sehen in diesen Ereignissen keine lokale Eskalation. Das Schicksal der Betroffenen in der Ohlauer ist mehr als ein Einzelfall. Die verzweifelt protestierenden Menschen in der Ohlauer Straßen haben unsere Solidarität, weil sie in ihrer verzweifelten Lage den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sind zu Stellvertretern geworden für tausende andere, deren „Fälle“ nicht öffentlich werden, weil ihre Abschiebung „planmäßig“, „reibungslos“ und „gewaltfrei“ abläuft. Sie verweisen mit ihrem Protest auf die skandalöse Abwesenheit einer deutschen Einwanderungspolitik und auf die Unfähigkeit, innerhalb der europäischen Politik eine grundlegende Debatte, jenseits von Einwanderungsverhinderung und Grenzsicherung zu führen.
Es erfüllt uns mit Scham, dass wir in Deutschland erneut an den Begriff der „historischen Verantwortung“ erinnern müssen. Aber offenbar ist das Bewusstsein der besonderen deutschen Verantwortung jenseits von Gedenkfeierlichkeiten nicht verankert. Unsere Geschichte und die Verfolgten der Gegenwart haben keine Lobby, das wird uns in diesen Tagen erneut schmerzlich bewusst.
Wir fordern Sie auf, die Würde des Grundgesetzes wieder herzustellen. Am 28.6.1993 wurde durch eine empörende Fehlentscheidung das Recht auf Asyl laut Artikel 16 des Grundgesetzes für politisch Verfolgte bis zur Unwirksamkeit eingeschränkt. Die Verpflichtung, verfolgten Menschen Schutz zu gewähren, muss wieder uneingeschränkt gelten. Insbesondere in einem Land, das Europa mit einem Krieg überzogen hat, das 6 Millionen Juden vernichtet hat, das bei seinem eigenen Wiederaufbau profitiert hat von der Hilfe und der Gnade der Weltgemeinschaft und nun für sich in Anspruch nimmt, „mehr politische Verantwortung in der Welt“ zu übernehmen. Die Einschränkung von Artikel 16 des Grundgesetzes muss rückgängig gemacht werden.
Wir stimmen mit Navid Kermani überein, der in seiner zutiefst beeindruckenden Rede zum 65.Geburtstag des Grundgesetzes sagte, dass von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, auch zwei Jahrzehnte später keine Rede sein könne. „Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16 seine Würde genommen.“ Wir fordern Sie auf, diese Verantwortung zunächst im eigenen Land und in der Europäischen Union zu übernehmen, indem Sie im Namen der Bundesrepublik in erster Linie zum Anwalt derer werden, die sich schutz- und hilfesuchend an uns wenden. Wir sind uns im Klaren darüber, dass diese Hilfe nicht einfach ist, dass sie finanziell, logistisch und politisch eine Herausforderung ist. Wir bitten Sie aber, sich gemeinsam mit der deutschen Öffentlichkeit dieser Herausforderung zu stellen.
Wir fordern Sie auf, auf allen politischen Ebenen, von den Kommunen über den Bund bis zum europäischen Parlament, Ihre Verantwortung als Vertreter auch für jene wahrzunehmen, die in der Gesellschaft keine lautstarken und finanzkräftigen Fürsprecher haben. Flucht nach Deutschland darf nicht länger als Verbrechen wahrgenommen werden. Die Umsetzung einer menschenfreundlichen Flüchtlingspolitik wird möglicherweise noch einige Zeit in Anspruch nehmen. So lange muss mit Flüchtlingen, in der Ohlauer Straße und an anderen Orten, unbürokratisch und menschlich umgegangen werden.
Wir ermutigen Sie, sich nicht von ausländerfeindlichen Stimmen und populistisch-nationalistischen Tendenzen in der Gesellschaft unter Druck setzen zu lassen. Die Antwort kann nicht bloße Empörung sein, sondern gegenläufiges politisches Handeln.
Wir verpflichten uns, viel mehr als bisher den Menschen, die von Abschiebung und Vertreibung aus Europa bedroht sind, eine Stimme zu geben.
Wir verpflichten uns, Lobbyisten der Geschichte, der zum Schweigen verurteilten und der Verzweifelten zu sein.
Wir verpflichten uns, in unserer Arbeit Öffentlichkeit für die Debatte zwischen Betroffenen, Mehrheitsgesellschaft und Politik herzustellen.